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Bekenntnisse eines ehemaligen Neocon

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Der typische Neokonservative, sagte Irving Kristol einmal, ist ein Linker, den die Realität hinterrücks überfallen hat. Was aber wird aus einem Neocon, den die Realität abermals überfallen hat?

Kristols Bemerkung war durchaus treffend. Die Neocons waren – zumindest in der Gründergeneration – größtenteils ehemalige Linke, insbesondere Trotzkisten. Also Renegaten. Und wie viele Renegaten – man denke etwa an das Personal der „Achse des Guten“ – wurden sie nach ihrer unangenehmen Begegnung mit der Realität nicht einfach stinknormale Konservative, sondern oft besonders penetrante Reaktionäre.

Ein solcher Neocon war ich nicht, obwohl auch ich Renegat bin. Die soziale Agenda der Neocons fand und finde ich größtenteils unvereinbar mit meinen liberalen Überzeugungen. Mich hat freilich ihre außenpolitische Agenda stark angezogen. Sie hat ihre ideologischen Wurzeln in der Politik Woodrow Wilsons, Franklin D. Roosevelts und in der Rhetorik John F. Kennedys; sie ist, wie viele Konservative anmerkten, überhaupt nicht konservativ, sondern im Kern revolutionär. Als „liberaler Falke“ – ein Liberaler in der Innenpolitik, aber ein Falke in der Außenpolitik – zog und zieht mich die Vorstellung an, die USA oder der „Westen“ – die USA mit der Anglosphäre und der Europäischen Union – könnten und müssten sich im wohlverstandenen Eigeninteresse überall auf die Seite derjenigen stellen, die für die Demokratie und gegen die Tyrannei kämpften; davon ausgehend, jenseits aller moralischen Erwägungen, dass Kants „ewiger Friede“ den weltweiten Sieg der Demokratie als Staatsform voraussetzt.

Freilich täuschten sich die Neocons, wenn sie glaubten, ihre außenpolitischen Vorstellungen seien Produkt eines „Überfalls durch die Realität“. Im Grunde haftete ihnen – worauf die echten Konservativen, die sich in den USA „Realisten“ nennen, immer hinwiesen – etwas von der trotzkistischen Vorstellung einer „permanenten Revolution“ an, wobei das Endziel – das „Ende der Geschichte“ – eben nicht mehr der Kommunismus, sondern Kants „Weltbund demokratischer Staaten“ wäre. Anstelle des Hegelianers Karl Marx trat der Hegelianer Francis Fukuyama, der theoretisch einen – wenn auch schwachen – geschichtlichen Determinismus ausmachte, der in diese gewünschte Richtung floss. Die Versuchung lag nahe, diesem Determinismus nachzuhelfen; und so wurde in Afghanistan und dem Irak aus der Not eine Tugend gemacht: Man ging rein, um Al Qaida beziehungsweise Massenvernichtungswaffen zu finden, man blieb, um die Demokratie aufzubauen. Die Ergebnisse sind ernüchternd.

Ich selbst entwickelte aus den Dilemmata der neokonservativen Außenpolitik die Vorstellung eines progressiven Imperialismus, als dessen Hauptkraft ich nicht die USA, sondern die EU ausmachte. Die USA, so argumentiere ich in meinem Buch „Imperium der Zukunft“, sind strukturell, habituell und politisch nicht in der Lage, jene nachhaltige Strategie zu entwickeln, die nötig ist, um die Demokratie erfolgreich zu exportieren, wie es die EU vor dem Fall des Eisernen Vorhangs in den ehedem faschistischen Ländern Spanien, Portugal und Griechenland und nach 1989 in den ehemals kommunistischen Ländern des Ostblocks vorgemacht hat. Mittels der Nachbarschafts- und Erweiterungspolitik sei die EU, so meine Argumentation, in der Lage, Druck in Richtung auf die Entwicklung einer liberalen Demokratie und einer funktionierenden Marktwirtschaft auszuüben. Die nächsten Kandidaten seien der westliche Balkan, die Türkei und die Ukraine. Doch auch im Mittelmeer habe die EU eine mission civilatrice – die Aufgabe, auf Reformen in den Anrainerstaaten zu drängen.

Nun, im Augenblick sieht es damit nicht gut aus. Die Ukraine wird von der russischen Aggression zermürbt, deren Nahziel darin besteht, die Mitgliedschaft der Ukraine in der EU zu verunmöglichen, und deren mittelfristiges Ziel die Spaltung Europas ist, so dass die EU außenpolitisch handlungsunfähig wird. Die Türkei hat unter Recep Tayyip Erdogan nach einer anfänglichen Phase der Hinwendung zur EU und der Demokratisierung eine neo-osmanische Politik verfolgt, die mit einem Abbau der Demokratie einhergeht. Der „arabische Frühling“, der 2011 die Träume der Neocons zu bestätigen schien, ist in allen Ländern außer Tunesien gescheitert. Westliche Intervention zugunsten der Opposition hat in Libyen einen failed state hinterlassen; westliche Nichtintervention hat dem von Russland gestützten Diktator Assad ermöglicht, sein Land in ein Totenhaus zu verwandeln. Wir Neocons – oder Sympathisanten der Neocons – sind von der Realität überfallen worden und müssen, wenn wir überhaupt etwas von unserer Glaubwürdigkeit behalten wollen, uns fragen, welche Lehren wir daraus ziehen.

Die erste und wichtigste Lehre scheint mir zu sein, dass die Staatlichkeit ein hohes Gut ist. Ein autoritärer Staat ist besser als gar kein Staat; undemokratische Strukturen sind besser als das Chaos; eine Armee ist besser als die Herrschaft von Milizen. Die Demokratie, wie immer man sie definiert, ist eine Funktionsweise des Staates und setzt einen funktionierenden Staat voraus. Es war vergleichsweise einfach, den Staat Francos oder Honeckers zu demokratisieren; es ist fast unmöglich, in Libyen eine Demokratie zu errichten, weil es dort fast keinen Staat gibt. Einer der großen Fehler der USA im Irak war die Auflösung der Armee, des wichtigsten Ordnungsfaktors im Land. Kurz und gut: Law and Order sind wichtiger als Freiheit und Demokratie.

Zweitens, und das hängt mit der ersten Lehre zusammen, ist Demokratie ohne Liberalismus nichts wert. Das heißt, wird die Demokratie missverstanden als die absolute Herrschaft der Mehrheit oder als die Legitimierung illiberaler Herrschaft durch Wahlen, ist sie nicht besser als die Despotie. So kam die Hamas durch demokratische Wahlen in Gaza an die Macht, denkt aber nicht daran, diese Macht mit irgendjemandem zu teilen; so glaubte Mohammed Mursi, durch seine demokratische Wahl zum Staatspräsidenten ein Mandat erhalten zu haben, Ägypten in einen Gottesstaat zu verwandeln. Liberalismus bedeutet erstens die Herrschaft des Rechts, also den Rechtsstaat. Liberalismus bedeutet zweitens den Schutz von Minderheiten und die Wertschätzung der Opposition. Liberalismus bedeutet drittens die Existenz einer staatsfernen oder besser regierungsunabhängigen Zivilgesellschaft, insbesondere von Gewerkschaften und Verbänden, Kirchen und anderen religiösen Institutionen, sowie eines vor Willkür geschützten Beamten- und Behördenapparats und einer freien Presse. Man könnte sogar sagen, dass ein Staat, in dem wenigsten ein Teil dieser Bedingungen gegeben ist – wie etwa China – besser ist als ein Staat, in dem es demokratische Wahlen gibt, wo aber die Justiz von der Politik abhängig, die Beamtenschaft korrupt, die Zivilgesellschaft schwach und die Presse gegängelt wird, wie zurzeit – und seit langem – in Ägypten.

Das sind keine neuen, schon gar nicht sind es originelle Gedanken; auch die Neocons waren und sind nicht so naiv, dass ihnen diese Überlegungen völlig fremd wären. Aber als ich jetzt in Ägypten war, kamen sie mir noch einmal mit der Wucht jenes Überfalls durch die Realität in den Sinn.

Man stelle sich ein Land vor, das seit Menschengedenken (die Hälfte der Bevölkerung ist 15 Jahre alt oder darunter) von einer ausufernden Bürokratie regiert und gegängelt wird: „Al Hakouma“ – die Regierung – ist das generische Wort, das Polizei und Behörden, Gerichte und überhaupt die da oben umfasst. Die Korruption ist endemisch; auch das Selbstverständliche wird nur erledigt, wenn Geld von Hand zu Hand geht. Und doch – oder deshalb – scheint es das höchste Ziel der meisten Menschen zu sein, einen Posten bei Al Hakouma zu ergattern, der lebenslange Sicherheit bei wenig Arbeit garantiert, und einem die Möglichkeit gibt, nebenbei etwas hinzuzuverdienen (wenn man seinen Chef schmiert).

Man stelle sich ein Land vor, in dem man zwar der Regierung nicht traut, dem Markt aber noch weniger. Adam Smith meinte, man solle sich nicht auf die Moral des Bäckers verlassen, wohl aber auf sein Eigeninteresse; denn kein Bäcker werde auf dem freien Markt lange bestehen, wenn er nicht zuverlässig und in zuverlässiger Qualität Brot liefere. In Ägypten scheint man der Ansicht zu sein, jeder Händler wolle einen betrügen, wenn es nur möglich ist. Kauft man nicht in bestimmten – oft staatlichen – Läden ein, müsse man damit rechnen, dass bei importierten Autos, Waschmaschinen oder Handys wertvolle Teile ausgebaut und durch billige Imitate ersetz worden seien. Bei heimischen Produkten müsse man ohnehin annehmen, dass im Shampoo Wasser und im Hemd unreine Baumwolle verwendet wurde. Ich kenne Ägypter, Bürger eines Baumwolle produzierenden Landes, die nach Deutschland fahren, um bei H&M Textilwaren einzukaufen und sich bei Lidl mit Seifenprodukten eindecken, obwohl der Umtauschkurs für das ägyptische Pfund nicht günstig ist.

Man stelle sich ein Land vor, in dem es selbstverständlich ist, dass die Presse von Parteien kontrolliert und von der Regierung zensiert wird – und die dennoch eifrig gelesen wird, jedenfalls von denen, die lesen können, denn 30 Prozent der Bevölkerung sind Analphabeten.

Man stelle sich ein Land vor, in dem Brot und Benzin dauersubventioniert werden, obwohl die Straßen verstopft sind und allgemein bekannt ist, dass manche Menschen ihre Brotrationen horten und an das Vieh verfuttern.

Man stelle sich ein Land vor, in dem den Menschen die Eigeninitiative systematisch abtrainiert worden ist, vom Hotelangestellten, der untätig herumsteht, bis ihn irgendjemand anschnauzt, bis zum Presseattaché der Botschaft in Berlin, der ohne grünes Licht seiner Vorgesetzten in Kairo nicht in der Lage war, mir seinerseits eine Empfehlung für ein Journalistenvisum auszustellen. (Dies ist kein bloßes ägyptisches Phänomen. Ich erinnere mich an die europäische Managerin eines Hotels in Jordanien, die mir sagte, sie stelle ungern einen Araber in leitender Position ein, weil er sich sofort in sein Büro einschließe und nur herauskomme, um sie zu bitten, eine weitere Stelle für seinen Cousin zu finden.)

Man stelle sich ein Land vor, in dem es immer noch wie unter den Pharaonen und Kalifen heißt, dieses oder jenes Gebäude sei „von Nasser“ oder „von Mubarak“ erbaut worden: Wie etwa der Assuan-Staudamm, jenes monströse Bauwerk, das zwar die Nilfluten regelt, aber den natürlichen Reichtum des Nils, den Schlamm, zurückhält, so dass die Felder im Niltal mit Kunstdünger bearbeitet werden müssen, was erstens teuer ist und zweitens den Fluss vergiftet. Man stelle sich ein Land vor, das größtenteils aus Wüste besteht, aber kaum angefangen hat, die Sonnenenergie auszubeuten; in dem ein Drittel der Bevölkerung in der Landwirtschaft arbeitet, die aber nur 14 Prozent des BIP erwirtschaftet… Ein Land mithin, dem die Probleme wie die Bevölkerung über den Kopf wachsen. Dagegen ist Griechenland ein Musterstaat.

Ob nun „arabischer Sozialismus“ unter Nasser oder arabischer Kapitalismus unter Mubarak: geändert hat sich herzlich wenig. Selbst wenn man unterstellt, dass ein Mubarak oder jetzt ein as-Sisi nur das Beste für ihr Land wollen – wo fängt man an? Natürlich müsste man die Justiz reformieren, korrupte Richter entlassen und mit ihnen die Hälfte der Beamtenschaft, die Subventionen einstellen, den Mittelstand und das unternehmerische Denken fördern, dabei aber gleichzeitig Kartelle und Betrüger verfolgen, die Schulpflicht durchsetzen und die Ausbildungsstandards anheben, schließlich die Kontrolle und Subventionierung der Presse und der Medien unterbinden – um nur die wichtigsten Maßnahmen zu nennen. Aber jede dieser Maßnahmen wird den Widerstand der Betroffenen Institutionen und Individuen hervorrufen. Man sagt, dass Mursi faktisch machtlos war, weil sich die Bürokratie, die Polizei und die Armee weigerten, ihm zu gehorchen. So ginge es jedem, der es wagte, ihre Privilegien anzurühren; und in einem durch und durch korrumpierten Land hat fast jeder ein Privileg zu verlieren.

Unter diesen Bedingungen ist es nachvollziehbar, dass einige Leute auf die Idee kommen könnten, nur eine moralische Revolution könne das Land retten. Würden islamische Werte – Ehrlichkeit, Gerechtigkeit, Arbeit und Almosen – die Gesellschaft durchdringen, könne sie vielleicht die Kraft finden, die zerstörten Institutionen in neuem Geist aufzubauen. Nicht zufällig stehen nicht nur die Landbevölkerung, sondern auch viele Händler hinter den Muslimbrüdern. Ähnlich war es ja bei der Reformation, die ja religiös gesehen eine fundamentalistische Wende rückwärts war, moralisch und gesellschaftlich jedoch, wie Max Weber nachwies, den Weg zur modernen Leistungsgesellschaft bahnte. Die Forderung nach einer „islamischen Reformation“ ist also Unsinn; sie ist ja da, und die Muslimbrüder sind ihre Vertreter.

Um es gleich zu sagen: Weder wünsche ich einen Sieg dieser Reformation (die europäische war blutig genug), noch halte ich einen solchen Sieg für möglich. Dort, wo solche Regimes an die Macht kamen, ob in Teheran oder Gaza, verfielen sie sehr bald ihrerseits der Korruption und konzentrierten sich hauptsächlich auf den Ausbau ihrer Tugenddiktatur und die Machtprojektion nach außen. Ich sage nur, dass ich den Gedanken nachvollziehen kann, anders als durch eine völlige Veränderung des Bewusstseins der Menschen wäre das Sein nicht zu ändern.

Heißt das also, dass diejenigen Recht hatten, die – wie etwa Peter Scholl-Latour – aus dem Scheitern des westlichen Kolonialismus und des aufgeklärten Neokolonialismus den Schluss gezogen haben, kulturell sei die Demokratie schlicht und einfach unvereinbar mit der Wirklichkeit außerhalb Europas? Heißt das also, dass die Realisten wie Helmut Schmidt Recht haben, die vor „Nation-building“ und ähnlichen gutgemeinten Projekten warnen, die Frage der demokratischen Legitimierung anderer Regierungen für unwesentlich erklären und dem Westen raten, eine Außenpolitik zu betreiben die strikt vom Eigeninteresse – Stabilität, Sicherheit, Handel – geprägt ist?

Ich glaube nicht. Die Demonstrationen vom Tahrir-Platz haben gezeigt, dass sich ein nicht unwesentlicher Teil der jungen Ägypter nach Freiheit sehnen, auch wenn sie nur unvollkommene Vorstellungen davon haben, was Demokratie bedeutet. Ähnlich war es vor einigem Jahren in Teheran. Und übrigens Istanbul. Und in Moskau, von Kiew ganz zu schweigen. Es liegt in unserem Eigeninteresse, diese Bewegungen zu fördern, und es liegt auch in unserem Eigeninteresse, wenn sich ein Land auf einen Reformweg begibt. Revolutionäre Ungeduld aber, so verständlich sie sein mag, wird wenig erreichen. Wer auch immer Ägypten nach vorne bringen will – und Länder wie Ägypten, von denen es sehr viele gibt: Er oder sie ist um seine Aufgabe nicht zu beneiden. Und verdient unsere Unterstützung.


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